Paul und ich hatten gestern noch lange geredet. Wir entschlossen
uns, Vorbereitungen für eine eventuell notwendige Flucht zu treffen. Pläne
wurden geschmiedet und wieder verworfen. Keiner von uns hatte jemals mit einer
solchen oder ähnlichen Situation zu tun.
Schließlich teilten wir uns auf. Paul
kümmerte sich um unseren alten Golf und wartete ihn, während ich die
Supermärkte nach sinnvollen Lebensmitteln und anderen Materialien durchstöberte.
Das Alles erschien mir immer noch surreal. Wir leben im wahrscheinlich sichersten
Land der Welt und trafen trotzdem Vorbereitungen für eine Flucht. In den
letzten Jahren versuchten Millionen Menschen in unserem Land Zuflucht zu
finden, nun waren wir die Flüchtlinge. Wer würde uns Schutz und Obdach bieten?
Während ich in der
Innenstadt unterwegs war, fiel mir auf, dass andere ebensolche Vorbereitungen
trafen. Hamsterkäufe, Kämpfe um die letzte Dose Thunfisch oder Wurst.
Blindwütig schafften die Menschen überlebenswichtige Waren in ihre Autos. Auf
dem Weg zurück sah ich lange Schlangen an den Tankstellen. Niemand sprach
darüber, doch alle haben Angst. Eine unsichtbare Hand legte sich an unsere
Kehlen und konnte sich jeden Moment schließen.
Mittags telefonierten wir mit Steffen. Wir brauchten endlose
Versuche, da das Handynetz völlig überlastet war. Als wir ihn endlich erreichten,
schaltete ich die Freisprechanlage an, damit auch Paul mithören konnte. Obwohl Steffen,
wie jedem anderen Polizisten in Deutschland, Stillschweigen auferlegt wurde und
man ihn dafür hätte feuern könnte, redet er mit uns über die drohende Gefahr.
Seine Zusammenfassung der Dinge ließ mich schaudern.
„Das Operationszentrum Hessen hat Frankfurt bereits
aufgegeben. Es wird keine Anstrengung mehr unternommen das Stadtgebiet zurück
zu erobern. Einsatzkräfte der Bundeswehr und die verbliebenen Polizeikräfte
versuchen die letzten Überlebenden des Angriffs zu evakuieren, aber diese
Bestrebungen werden sehr bald eingestellt werden. Es würde einfach zu viele
Opfer kosten, um auch die letzten Menschen zu retten.“
Es war also so schlimm, wie wir erwartet hatten. „Was habt ihr also vor?“
„Wir werden versuchen das gesamte Stadtgebiet unter
Quarantäne zu stellen.“
„Das hat doch noch nicht mal beim Hauptbahnhof geklappt“,
bemerkte ich.
Sein Schweigen dazu sagte alles.
„Wann werden sie Darmstadt erreichen?“ Meine Frage lag auf
der Hand, erschreckte mich aber selbst. War es wirklich schon soweit, dass man
über eine Flucht nachdenken musste? Gab es keine Möglichkeit die wandelnden
Toten aufzuhalten?
„Wir gehen davon aus, dass sie sich wie in den Filmen
verhalten. Sie werden den Flüchtlingen folgen oder sich von Wohngebiet zu
Wohngebiet vorarbeiten.“
„Ähnlich einer Spur von Brotkrumen“, vollendete ich.
„Ja! Wir gehen daher davon aus, dass sie sich sternförmig
ausbreiten. Wir evakuieren bereits angrenzende Dörfer. Die Bundeswehr wird im
Laufe des Tages Drohnen starten. Die Luftaufklärung wird uns zumindest die
größeren Feindbewegungen zeigen.“ Im Hintergrund hörten wir Fahrzeuge und
gerufene Befehle. Steffen beeilte sich: „Verlasst in den nächsten Tagen
Darmstadt und die nähere Umgebung. Sollte irgendetwas schiefgehen, schlagt euch
zum Hauptbahnhof durch. Dort wird gerade ein Evakuierungszentrum errichtet.“
Dann brach die Verbindung ab.
Gegen Abend klingelte es an der Wohnungstür. Alex! Kaum hatte
ich die Wohnungstür geöffnet, fiel sie mir auch schon um den Hals. Sie weinte.
Ich war so baff, dass mir die Worte fehlten. Ich zog sie sanft in unseren Flur
und bugsierte sie vorsichtig ins Wohnzimmer. Paul nickte mir nur kurz zu und
verschwand mit seinem Kaffee in der Küche. Für einen logisch strukturierten
Menschen, pflegte er eine überraschend einfühlsame Seite.
Bei einem Tee beruhigte sie sich langsam. Ihre Eltern waren
am 30.10. am Flughafen. Anscheinend wurden sie in die Kämpfe zwischen der
Polizei und den Einreisenden hineingezogen. Die letzten Tage und Wochen verbrachte
sie mit Identifizierung ihrer Leichen, der Beerdigung und allem anderen. Sie
zitterte am ganzen Körper.
Wir redeten und redeten. „Du bist nicht allein“, sagte ich
und fühlte, dass es keine Worthülse war.
Sie blieb über Nacht. Ich wollte ihre Situation nicht
ausnutzen und schlief auf der Couch. Als ich mitten in der Nacht erwachte, stand
sie vor meiner Couch. „Ich will nicht allein schlafen“, sagte sie. „Komm ins
Bett.“ Wir lagen zusammen, gaben uns Halt, in einer aus den Fugen geratenen
Welt.