Samstag, 19. September 2015

Samstag 05.11.16

Paul und ich hatten gestern noch lange geredet. Wir entschlossen uns, Vorbereitungen für eine eventuell notwendige Flucht zu treffen. Pläne wurden geschmiedet und wieder verworfen. Keiner von uns hatte jemals mit einer solchen oder ähnlichen Situation zu tun. 
Schließlich teilten wir uns auf. Paul kümmerte sich um unseren alten Golf und wartete ihn, während ich die Supermärkte nach sinnvollen Lebensmitteln und anderen Materialien durchstöberte. Das Alles erschien mir immer noch surreal. Wir leben im wahrscheinlich sichersten Land der Welt und trafen trotzdem Vorbereitungen für eine Flucht. In den letzten Jahren versuchten Millionen Menschen in unserem Land Zuflucht zu finden, nun waren wir die Flüchtlinge. Wer würde uns Schutz und Obdach bieten?
Während ich in der Innenstadt unterwegs war, fiel mir auf, dass andere ebensolche Vorbereitungen trafen. Hamsterkäufe, Kämpfe um die letzte Dose Thunfisch oder Wurst. Blindwütig schafften die Menschen überlebenswichtige Waren in ihre Autos. Auf dem Weg zurück sah ich lange Schlangen an den Tankstellen. Niemand sprach darüber, doch alle haben Angst. Eine unsichtbare Hand legte sich an unsere Kehlen und konnte sich jeden Moment schließen.

Mittags telefonierten wir mit Steffen. Wir brauchten endlose Versuche, da das Handynetz völlig überlastet war. Als wir ihn endlich erreichten, schaltete ich die Freisprechanlage an, damit auch Paul mithören konnte. Obwohl Steffen, wie jedem anderen Polizisten in Deutschland, Stillschweigen auferlegt wurde und man ihn dafür hätte feuern könnte, redet er mit uns über die drohende Gefahr. Seine Zusammenfassung der Dinge ließ mich schaudern.

„Das Operationszentrum Hessen hat Frankfurt bereits aufgegeben. Es wird keine Anstrengung mehr unternommen das Stadtgebiet zurück zu erobern. Einsatzkräfte der Bundeswehr und die verbliebenen Polizeikräfte versuchen die letzten Überlebenden des Angriffs zu evakuieren, aber diese Bestrebungen werden sehr bald eingestellt werden. Es würde einfach zu viele Opfer kosten, um auch die letzten Menschen zu retten.“
Es war also so schlimm, wie wir erwartet hatten.  „Was habt ihr also vor?“
„Wir werden versuchen das gesamte Stadtgebiet unter Quarantäne zu stellen.“
„Das hat doch noch nicht mal beim Hauptbahnhof geklappt“, bemerkte ich.
Sein Schweigen dazu sagte alles.
„Wann werden sie Darmstadt erreichen?“ Meine Frage lag auf der Hand, erschreckte mich aber selbst. War es wirklich schon soweit, dass man über eine Flucht nachdenken musste? Gab es keine Möglichkeit die wandelnden Toten aufzuhalten?
„Wir gehen davon aus, dass sie sich wie in den Filmen verhalten. Sie werden den Flüchtlingen folgen oder sich von Wohngebiet zu Wohngebiet vorarbeiten.“
„Ähnlich einer Spur von Brotkrumen“, vollendete ich.
„Ja! Wir gehen daher davon aus, dass sie sich sternförmig ausbreiten. Wir evakuieren bereits angrenzende Dörfer. Die Bundeswehr wird im Laufe des Tages Drohnen starten. Die Luftaufklärung wird uns zumindest die größeren Feindbewegungen zeigen.“ Im Hintergrund hörten wir Fahrzeuge und gerufene Befehle. Steffen beeilte sich: „Verlasst in den nächsten Tagen Darmstadt und die nähere Umgebung. Sollte irgendetwas schiefgehen, schlagt euch zum Hauptbahnhof durch. Dort wird gerade ein Evakuierungszentrum errichtet.“ Dann brach die Verbindung ab.
Gegen Abend klingelte es an der Wohnungstür. Alex! Kaum hatte ich die Wohnungstür geöffnet, fiel sie mir auch schon um den Hals. Sie weinte. Ich war so baff, dass mir die Worte fehlten. Ich zog sie sanft in unseren Flur und bugsierte sie vorsichtig ins Wohnzimmer. Paul nickte mir nur kurz zu und verschwand mit seinem Kaffee in der Küche. Für einen logisch strukturierten Menschen, pflegte er eine überraschend einfühlsame Seite.
Bei einem Tee beruhigte sie sich langsam. Ihre Eltern waren am 30.10. am Flughafen. Anscheinend wurden sie in die Kämpfe zwischen der Polizei und den Einreisenden hineingezogen. Die letzten Tage und Wochen verbrachte sie mit Identifizierung ihrer Leichen, der Beerdigung und allem anderen. Sie zitterte am ganzen Körper.
Wir redeten und redeten. „Du bist nicht allein“, sagte ich und fühlte, dass es keine Worthülse war.

Sie blieb über Nacht. Ich wollte ihre Situation nicht ausnutzen und schlief auf der Couch. Als ich mitten in der Nacht erwachte, stand sie vor meiner Couch. „Ich will nicht allein schlafen“, sagte sie. „Komm ins Bett.“ Wir lagen zusammen, gaben uns Halt, in einer aus den Fugen geratenen Welt.

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